Texte, Kritiken, Kataloge, Reden
Text von Susanne Schmidt zu „Der Raum gedehnt“
09.11.2017
Ausgezeichnet mit dem Gellert-Preis für bildende Kunst des Landkreises Nordsachsen und der Sparkasse Leipzig, wird REINHARD MINKEWITZ im Jahr seines sechzigsten Geburtstages mit der Personalausstellung „Der Raum gedehnt“ in den historischen Räumen des Schlosses Hartenfels bedacht.
Neunundzwanzig Exponate aus den vergangenen zwanzig Schaffensjahren des Künstlers sind im spannungsreichen Wechsel thematisch geordneter Ausstellungssäle zu sehen und bieten die Gelegenheit, die jüngsten Entwicklungen des Leipziger Künstlers, insbesondere seine langjährige Auseinandersetzung mit der Antike kennenzulernen. Den großformatigen Leinwänden mit markantem Kohlestrich sind Malereien in hauchdünner Farbigkeit und Metallskulpturen aus dem bildhauerischen Oeuvre des Künstlers beigegeben. Thematisch bindend für die Werke ist die menschliche Figur, die sich oftmals vereinzelt und nackt in den halb illusionär-enthobenen, halb realen Bildräumen bewegt. Sie ist REINHARD MINKEWITZ Träger für Geschichte, Mythologien und Ideale. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Antike schenkt den Figurationen überdies ein Geheimnis, dessen Offenlegung jedoch keine Bedingung für die Begegnung dieser „in stiller Formsprache“ ausgeführten Werke ist. (Susanne Schmidt)
Rede von Hans-Werner Schmidt zur Ausstellung:
REINHARD MINKEWITZ – Der Raum gedehnt. Bilder und Skulpturen
24. November 2017
Lieber Reinhard Minkewitz,
sehr geehrter Herr Emanuel,
sehr geehrter Herr Koch,
liebe Freunde der Kunst,
Das Museum der bildenden Künste, dieser ehemals stolze Bau der Neorenaissance am Augustusplatz in Leipzig wurde am 18. Dezember 1858 eröffnet. Der Künstler Reinhart Minkewitz wurde am 18. Dezember 1957 in Magdeburg geboren. Aus dieser Datenentsprechung und der 99-jährigen zeitlichen Differenz ließe sich auch ein Redebeitrag konzipieren, ganz im Bereich des Spekulativen. Doch damit wir hier nicht einem kollektiven Schwindel erliegen, gehe ich stattdessen die Route der Fakten.
Das Terrain „Minkewitz“ ist geografisch in benachbarten Koordinaten überschaubar. Geboren 1957 in Magdeburg, aufgewachsen in Berlin, im östlichen Teil der Stadt, und zum Künstler ausgebildet an den beiden sächsischen Hochschulen in Leipzig und Dresden. Doch nicht nur dieser Raum gibt uns Bezugsgrößen, vielmehr noch die Zeit – und es stehen an 60 Jahre Minkewitz.
-
Mit drei Anmerkungen möchte ich beginnen, die auf den ersten Blick sich einer unmittelbaren Korrespondenz entziehen. Reinhard Minkewitz ist 18 Jahre alt und malt einen Kiefernzweig. „Kiefernzweig“ heißt das in Öl auf Hartfaser gemalte Bild, das der Künstler als legitimen Nachweis seiner künstlerischen Entwicklung im Ausstellungskatalog abgebildet sehen möchte und das zudem seinen Platz in der Ausstellung erhält. Bei einem heranwachsenden jungen Mann vermutet man andere visuelle Phantasien und Herausforderungen – aber es sollte dieser Kiefernzweig sein, mit seinen struppigen, ja widerborstig wirkenden Nadeln, die durch Lichtreflexe gehöht messerscharf wirken. Anders als bei der Tanne, die eine parallele Nadelstruktur aufweist, einen botanischen Gleichschritt in Kolonnenformation, erscheint das Nadelwerk der Kiefer wie gegen den Strich gebürstet. Das Grün, neben den lichten Linien im Schatten wie eine dunkle Lineatur wirkend, vermittelt das Bild eines Tumults. Die Zapfen erscheinen eiförmig und künden so eher von einer dunklen Überraschung. Von der Botanik, die gegen den Strich gebürstet scheint, hin zur Literatur.
Der Schüler Minkewitz war – und ist es immer noch – ein eifriger Leser. Auf der Agenda standen die Helden der Weimarer Klassik, Goethes „Faust“ zwischen Investigativem und Spekulativem hat es ihm angetan, aber auch Theodor Storm taucht in seiner Erinnerung auf als früher Vertreter des literarischen Realismus – und folgerichtig die Lehrplangrößen Anna Seghers und Bertolt Brecht. Als Randbemerkung sei hier eingefügt, dass die Autorin Anna Seghers eine promovierte Kunsthistorikerin unter dem Familiennamen Reiling war, und sie in Verehrung des niederländischen Radierers und Malers Hercules Seghers dessen Name annahm. Und diese Wertschätzung teilt auch Minkewitz.
Ergänzend sollte man hier noch auf die Lektüre von Joseph Roth, Arthur Schnitzler und auch Sigmund Freud verweisen, deren geschilderte Subjektprofile weit mehr Determinanten kennen als die der Klassenzugehörigkeit. Denn der literarisch-künstlerisch interessierte Schüler Minkewitz sucht ein Korrektiv zur hohen Dosierung realistisch-gesellschaftskritischer Lektüre. Und er findet dieses Gegenmittel im Gilgamesch-Epos, jenem literarisch aufbereiteten Mythenschatz, der im zweiten Jahrtausend vor Christi datiert und als Erscheinungsort das Babylonische Reich aufweist. Dem Schüler lag die von Georg Burckhard bearbeitete Ausgabe von 1952 vor.
Sicherlich musste sich der Schüler Minkewitz mit einem Geschichtbild auseinandersetzen, das in seiner teleologischen Ausrichtung auf die sozialistische Gesellschaftsformation hin programmiert erschien und die diesen Weg dorthin als Kontinuum von Klassenkämpfen beschrieb.
Doch Minkewitz‘ Interesse an der Geschichte, seine an Mythen orientierte Neugierde kommt im archäologischen Gewand daher, denn das in Keilschrift abgefasste Zwölftafel-Epos trägt die Patina einer Weltkonstruktion, in der Herrscher mit Teilstammbaum in der Sphäre des Göttlichen agieren als auch Mensch-Tier-Wesen die weltliche wie göttliche Ordnung und Moral in Frage stellen in einem steten Streit zwischen Himmels- und Unterwelt. Überspitzt könnte man sagen, dass Minkewitz die Kultur des Zwei-Strom-Landes mehr interessiert hat als die Ideologie der Zwei-Klassengesellschaft. Doch es wäre kurzsichtig, Reinhard Minkewitz im Schliemann-Jüngertum zu verorten. Die spätere künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gilgamesch-Epos führt er auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos durch den österreichischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott zurück, der unter dem Eindruck des Irak-Krieges das Thema bearbeitet und 2001 in Wien auf die Bühne bringt.
Noch ein letzter einleitender Exkurs – nach der Botanik und der Literatur -, der ein Rahmenwerk für die künstlerische Biografie von Reinhard Minkewitz liefert. Und jetzt komme ich zur bildenden Kunst. Von 1979 bis 1984 studierte Minkewitz an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Nach dem Diplom erhielt er ein Stipendium der Städtischen Bühne Leipzig. 1987 wechselte er an die Kunstakademie nach Dresden, um dort seinen Meisterschüler zu erlangen. In biografischen Rückblicken taucht in diesem Zusammenhang das Ausbildungskonstrukt Hochschule nicht auf. Minkewitz bezieht sich hier allein auf den Lehrer Gerhard Kettner, dessen Einfluss auf die Arbeit sowohl Minkewitz selbst betont wie auch Autoren, die den Künstler seit Jahren begleiten. Und unisono verweist man im Sinne einer Ursprungsquelle auf den Zeichner Hans Theodor Richter, den Lehrer Kettners – und so lebt Minkewitz mit dem Attribut eines Enkels. Und diese Genealogie ist alles andere als bemüht. Den drei Künstlern, Richter – Kettner – Minkewitz, ist gemein, dass sie das Weiß des Papiergrundes als werkkonstituierend betrachten, eben diesen als changierendes Fluidum zwischen Fläche und Raum. Und in dieser Vexierzone steht die Linie als präzise Setzung, gleichsam als Synthese von Beobachtung und Vorstellung. Sie bringt die menschliche Figur zur Artikulation. Man gewinnt den Eindruck, als käme diese als humanes Grundelement zur visuellen Deklination.
Als ich Reinhard Minkewitz in seinem Atelier besuchte, in dem Staffeleien und Stapel von Bildern in unterschiedlichen Zuständen ein umgebendes Rund bilden, fiel mir das astreine Parkett auf, das – für ein Maleratelier – auffallend wenig Farbspuren aufweist. Schaut Minkewitz auf seine Akademiezeit in Leipzig zurück, dann ist es vor allem Dietrich Burger gewesen, der ihm zeichnerische Strukturen vermittelt hat. Die farbigen Expansionen und Schichtungen eines Bernhard Heisig, der Malerei immer auch als Materiebehandlung begriff, blieben Minkewitz fremd. Trotz Nimbus „Leipziger Schule“ folgte Minkewitz der Logik seines Werkes und arbeitete dies meisterlich aus in Dresden. Dies zeugt von ausgeprägter Souveränität.
„Ghordo“ heißt eine Arbeit von 2002, großformatig, Kohle auf Leinwand. Hier dominiert die Zeichnung vor weißem Grund, also das Dresdner Erbteil; das antik-literarische Anregungspotenzial ist präsent und in der chaotisch wirkenden Struktur glaubt man, den frühen „Kiefernzweig“ zu sehen. Denn:
Minkewitz versetzt ein in Wirrungen verstricktes Liniengeflecht in den Zustand der Formwerdung. Eine Figur scheint im Zustand der Entwirrung nach vorn zu treten, Physiognomien und weitere anatomische Details finden Kontur im Verlauf der nervösen Linienzirkulation. Minkewitz führt eben diese aus in einem Linien-Parallellauf, was der Flächigkeit Plastizität verleiht und sich so die Ahnung eines Flachreliefs einstellt. Assoziationen einer sezierenden Freilegung von Nervensträngen wie Blutbahnen stellen sich ebenso ein wie die Nähe zu einer fotografischen Doppelbelichtung, die Linien zum Vibrieren bringt. Der kleine „Kiefernzweig“ hat so zu einem großdimensionierten Nachfahren gefunden.
Mit dem Titel „Ghordo“ spielt Minkewitz zum einen auf den umzäunten Raum an, somit das indo-germanische Wort für „Geflecht“, wie auch auf den Gordischen Knoten – jenes kunstvoll verknotete Seil, das den Streitwagen des Phrygischen Königs Gordios untrennbar mit dem Zugjoch verband – bis Alexander der Große mit einem Schwerthieb den Gordischen Knoten trennte. Doch die Geschichten des griechischen Altertums kennen verschiedene Auslegungen – so gibt es auch die, wobei es eben jenem Alexander dank seiner Schläue gelungen sei, den kunstvoll versponnenen Knoten zu lösen. Sicherlich kommt man Minkewitz‘ „Ghordo“ auch eher mit einem analytischen Auge bei, als mit einer reflexartigen visuellen Begegnung. Minkewitz ist mit „Ghordo“ in der Mythenwelt unterwegs, die in ihren Welterklärungsstrukturen mit einer Ahistorizität einhergeht, wobei der „Gordische Knoten“ weiterhin seine parabelhafte Erzählstruktur weiterspinnt, sei es bei Koalitions- oder auch Tarifverhandlungen, in denen die Analysefähigkeit und kluge Entschlusskraft eines Alexander des Großen gefragt ist.
Minkewitz hat schon als Kind ein großes Interesse an den sogenannten „versunkenen Kulturen“, an deren gesellschaftlichem Leben in ihrer Ausrichtung auf himmlische Gestalten und Gestaltern wie auch deren Widersachern aus der Unterwelt, wobei die Kreatur Mensch wie ein Spielball zwischen polaren Kräften erscheint. Was meint „versunkene Kulturen“? Es klingt wie ein Wegdriften einstmals bestehenden in die Dunkelzonen der Geschichte. Und der Tat: Es ist Kulturgut unter Erdschichten, das von Archäologen dem Vergessen entrissen wird und wieder zu Tage befördert wird. Ahnung bekommt so wieder eine Gestalt.
Man assoziiert damit aber auch verblassende, ja verdrängte Erinnerungen, die in den tiefen Schichten des Bewusstseins, im Unterbewusstsein, geborgen sind. Der Psychoanalytiker ist der Archäologe der Seele. Der Mythos ist eine Form des unbewussten Verstehens, eine Handhabung gleichsam natürlicher Verstehensmuster und auch diesem Vorgang will Minkewitz ein Bild geben.
Der Reiz des Ungesicherten, was dem Potenzial der Ausmalung das Feld überlässt, entspricht den Minkewitzschen Phantasiegängen – so auch das Gilgamesch-Epos, wie eingangs schon erwähnt. In der Ausstellung begegnen wir „Enkidu nähert sich Shamhat“ (2005). Aus gesättigten Farbstrukturen fokussiert Minkewitz in einem Hauch von Umrisszeichnung die Figuren, in linearen Kürzeln oder aus der Farbmaterie herausgekratzt. Enkidu, der Waldmensch, der ein Leben fernab kultureller Prägung lebt, nähert sich in einem unsicheren aber doch fast schon aufdringlichen Habitus der Frau, die ihn der Wildheit entfremden und gesellschaftsfähig machen soll. Die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz beschreibt in ihrer Gilgamesch-Abhandlung die Frau als Priesterin, während Vertreter der Altorientalistik in ihr eine Prostituierte sehen, denn Sexualität in dienender, ritenhafter Form hat zweifellos ihren Platz in der Kultursphäre. Liturgie und Eros finden später zusammen im Tätigkeitsbereich der Venuspriesterinnen. In Minkewitz‘ Umrisszeichnung des Enkidu kann man eine faunische Unbeholfenheit hineinprojizieren, während Shamhat in ihrer Zurückhaltung Souveränität verrät.
Minkewitz‘ Werk kennt zahlreiche Beispiele des leisen Dialoges, wobei die mentalen Vibrationen gleichsam als psychologisches Abbild der Gesprächssituation vor Augen stehen. So treffen wir auf „Zuhörende“ und „Vorlesende“ und eben diese Titel unterstreichen sensible Formen der Kommunikation, ob es nun ein „Schweigendes Paar“ (1993) ist oder „Dem anderen Lauschen“ (2017), was zum einen das Einfühlungsvermögen wie die Unaufgeregtheit bei hoher Konzentration unterstreichen. Titel wie „Deutschstunde I“ und „Deutschstunde II“ lassen des Weiteren bei deutlichem Bezug auf Siegfried Lenz eine Form der Unterrichtung anklingen.
Das heute zum Fetisch gewordene Anspruchsdenken „Partizipation“, also Teilhabe, setzt das Zuhören voraus. Die Teilhabe am Straßenverkehr macht den Führerschein unabdingbar, aber wenn es um Kunst geht, scheint die Teilhabe an der Auseinandersetzung mit ihr voraussetzungslos. Das aktuelle Kursbuch, eins von Heinz Magnus Enzensberger begründet versammelt Beiträge zum Thema „Bullshit. Sprech“. Dummheit erscheint mit Überzeugung angereichert, in dem eben diese ständig wiederholt wird oder gar in pathetische Worte geformt wird. Konservative Geister mit abgelaufenem ästhetischen Führerscheinen sind dabei in Einbahnstraßen unterwegs, die in Sackgassen münden. Neuerungsfetischisten und Agilitätsfanatiker praktizieren dem gegenüber mit ihrem ästhetischen Sechsganggetriebe den rasenden Stillstand und erfreuen sich täglich an der Wiederkehr des Neuen. Statements dieser Spezies kommen mir vor wie Vollgas im Leerlauf. Ich empfehle, in einer der gängigen Talkshows im deutschen Fernsehen und auch in allen erdenklichen Gesprächsrunden als Hintergrundbild „Dem anderen lauschen“ von Reinhart Minkewitz einzublenden. Dies wäre dann ein Verweis auf die Vorbedingungen von „Partizipation“, die aktuell eigensinnig und kompetenzlos der Banalisierung den Weg bereitet, vor allem in den kommunikativen Zirkeln, wo Wissen durch Meinen ersetzt wird und wo auf eben jener Banalisierungsebene jeder zu seinem Ausdruck, aber keiner zu seinem Recht kommt.
Entsprechend der literarischen Orientierung des Künstlers, prononciert durch solche Titel wie „Dem anderen lauschen“, hat Irmgard Spencker, die Kuratorin des Deutschen Buch- und Schriftenmuseums der Deutschen Bücherei Leipzig recht, wenn sie in ihrem Katalogvorwort zur dortigen Ausstellung 1997 schreibt: „Die Ausstellung und besonders der Katalog belegen nicht nur die Beziehung des Künstlers zu Buch und Literatur.“ In einer Bestätigung dessen muss einfließen das Korrektiv, dass Minkewitz nicht als Illustrator den literarischen Stoff begleitet. Seine Bildfindungen lösen sich aus einer möglichen Parallelität zum Text und bergen im Gegensatz dazu ein Mehr an Bedeutungsebenen, erlauben mäandernde Lesarten und ein Nachdenkenpotenzial im Aussagespektrum, so wie es dem antiken Mythos eigen ist.
„Der Strahl“ heißt eine Arbeit von 2008, die Minkewitz mit „Liniengravur und Öl auf Holztafel“ beschreibt. Ein androgynes Wesen befindet sich in einem Schwebezustand. Der Körper, in Lineaturen eher kristallin umrissen, gleitet von einer imaginären Kraft angezogen in einer Aufwärtsbewegung durch den Bildraum, der in seiner blauen, offenen Farbstruktur eine Tiefe erahnen lässt. Der tief im Nacken ruhende Kopf, die geöffneten Hände und der jeder Spannung bare Körper hat sich anscheinend einer anderen Kraft überlassen. Das Schweben erinnert an den Flug einer Daunenfeder. Blendet man diesen profanen Bezug aus, stellt sich ein von Hoffnung geprägtes Bild ein, eben das der Seele, die den Körper verlässt. Der Rock-sozialisierte hier Vortragende sieht darin auch ein mögliches Cover für das posthum veröffentlichte Album von Jimi Hendrix, das den Titel „Kiss the sky““ (1984) trägt und eine Musik dokumentiert, die von der Sehnsucht kündet, den Körper mit der Unendlichkeit des Kosmos zu verschmelzen.
An dieser Stelle gilt es, einer Fehleinschätzung vorzubeugen. Auch wenn Minkewitz‘ Menschendarstellungen mit einer Entkörperlichung und Entpersonalisierung einhergehen, er der Schwerelosigkeit und der Unendlichkeit des Raumes ein Bild gibt; das Surfen auf medialen Oberflächen ist Minkewitz fremd und zum Virtuellen hat er nicht einmal ein nachbarschaftliches Verhältnis.
Reinhard Minkewitz hat viele Jahre Aktzeichnen an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig unterrichtet, er kennt jeden Muskel, jede Sehne, ja jede Pore. Doch seine Figuren entstehen als Kopfgeburten ohne blickbasierte Rückversicherung. Es ist stets die Idee von einem Körper, die über die Sicherheit des Einfühlens ihre Präsenz erhält. Minkewitz bekennt sich hier auch zu einer historischen Nachbarschaft: es sind die Figuren von Alberto Giacometti, äußerst filigran, zerbrechlich wirkend und doch einem Energiekonzentrat gleichkommend, zurückhaltend und doch den ganzen Raum dominierend in ihrer ausstrahlenden Wirkung.
Die Ausstellung trägt den Titel „Der Raum gedehnt“. Dieser Bildtitel fungiert zudem noch als Raumbezeichnung im Rahmen der Werkschau. Minkewitz verwendet nicht den Akkusativ, der einem handelnden Subjekt den Aktivpart gegenüber dem Raum zuerkennt. Es heißt „Der Raum“, was bedeuten könnte, dass man dem Ort eine Eigenwertigkeit zuerkennt, ein Agieren mit dem Dreidimensionalen in Kooperation.
Mit ausgestreckten Armen, gespreizten Fingern tänzelt eine Person durch den Raum, der durch eine Minimallinienführung als Boden und Decke in seiner Begrenzung definiert ist. Doch eben diese gehen im Farbduktus unter, einem Farbverlauf, der wie das Kleid des Mannes in einem Windstoß in Bewegung geraten ist. Getragen von diesem Fluidum vollzieht das Spielbein einen tänzerischen Schritt mit minimaler Bodenberührung, während das Standbein im Andeutungsmodus verharrt. Titel, die den Tanz benennen, tauchen mehrfach im Werk von Minkewitz auf. Hier ist es die Geste des weltumarmenden Wollens. Es ist aber keine pure Empfängnisbereitschaft, denn aus den gestreckten Armen scheinen Energieflüsse die Ausdehnung zu betreiben, während die Schrittfolge immer neue, erweiterte Radien suggeriert. Es ist kein vitruvscher Idealkörper, der einer in Grenzen festgelegten Architektur ihr menschliches Maß als Modul einschreibt. Dieser Körper hebt ab, erfährt den entgrenzten Raum. Es ist ein Körper, der jede Formierung in Gestalt von Disziplin und Drill überwindet, der das Körperkorsett sprengt. Auch hier hätte ich einen Vorschlag zu machen, für die Gestaltung eines Buchtitels, der Michel Foucaults Gouvernementalität zum Thema hat, in dem es um die Analyse von Normalitätsgraden geht und um die Technologien des Selbst in ihren repressiven Strukturen, letztlich um die Überwindung der Disziplinarmacht.
Dieser Zeremonienmeister der Raumexpansion, der als Gegenüber die Totale sucht, findet in Minkewitz‘ Œuvre auch zu einem Gegenentwurf in kauernden, nachdenklichen Figuren, wobei höchste Konzentration und Anflug von Melancholie dicht beieinander sind. „Angebrochene Sekunde“ (2017) zeigt den Moment des Innehaltens, wobei die Figur in höchster Konzentration das Blatt, den Raum, in Gänze ausfüllt. Und eben diesen Moment der Konzentration, des kraftgebenden Quells weiß Minkewitz in Zweisamkeit besonders überzeugend auszuformulieren.
Anrührend schon der Titel, wenn man über das entsprechende Erinnerungsvermögen und Empathie verfügt: „Die besten Jahre – Emil Zatopek küsst seine Frau nach dem Weltrekordlauf in Helsinki, 1952“. Jener Ausnahmesportler war auch unter dem Namen „Die Lokomotive von Prag“ bekannt. Der mehrfache Weltrekordler und Medaillengewinner erlief bei den Olympischen Spielen in Helsinki drei Goldmedaillen auf den Langstrecken – und findet bei Minkewitz die innige Anerkennung durch seine Ehefrau Dana Zátopková – die im Speerwurf die Goldmedaille errang. Die für die Medienkanäle einstudierte und heute übliche Triumphatorgeste ist beiden fremd. Vor dunklem Grund heben sich die Körper der beiden Athleten in caravaggesker Illumination ab. Minkewitz zelebriert hier den Faltenwurf, so wie man ihn aus den Gewandungen der Heiligen kennt. Zatopek richtet sich auf und greift nach seiner Frau, während diese sich über ihn beugt. Der gerade mehrfach ausgezeichnete Olympiasieger empfängt in Demut die Zuneigung seiner ebenfalls siegreichen Lebenspartnerin. Dieser innige Moment gebiert die Kraft, den Raum zu dehnen – im Wurf des Speeres und in einer bis dato nicht erlebten Energieleistung, Zeit auf den Langstrecken gleichsam zu schmelzen. Zatopek, der Friedensaktivist und Streiter im Prager Frühling, steht zu dieser Zeit noch sein längster Lauf bevor – der Spießrutenlauf, der ihn nach 1968 zum Persona non grata-Läufer macht. Er wird sich an einen solchen Moment erinnern, wie Minkewitz ihn hier darstellt, um doch noch mit zahlreichen Blessuren an einem Ziel anzukommen: der Rehabilitierung.
„Zatopek“ ist ein politisches Bild, so wie das an der Universität Leipzig, das klugen und beherzten Renegaten wieder eine Stimme gibt. „Aufrecht stehen“ ist eine Disziplin außerhalb des olympischen Kanons. Aufrecht stehen geht nur im gedehnten Raum.
Hans-Werner SchmidtRede Reinhard Minkewitz
Schloss Hartenfels Torgau
24. November 2017